Religion postkolonial? Frankfurter Sommerkurs zur Geschichte der Frühen Neuzeit 

Juli 24 Juli 26

Mit Filmvorführung von “Colette et Justin” am 25. Juli

In einer Szene, die in den Postcolonial Studies oft erwähnt wird, trifft ein christlicher Missionar außerhalb der indischen Stadt Delhi im Schatten eines Wäldchens auf die lokale Bevölkerung, die sich, zahlreich versammelt, dem Bibelstudium widmet. Überrascht spricht der Missionar einen älteren Mann an, der ihm enthusiastisch erklärt, die Dorfbewohner*innen würden die Bibel geradezu lieben – aber dennoch Vorbehalte dem Christentum gegenüber haben. Schließlich könnten Europäer*innen unmöglich Gottes Wort verkünden. Aus einem Mund nämlich, der Fleisch esse, würde sich Gott nicht offenbaren; erst recht nicht, wenn es sich beim Fleisch um dasjenige von Kühen handle.

Das Gespräch, das im Mai 1817 unter einem Baum bei Delhi geführt worden sein soll, ist Missionsberichten des frühen 19. Jahrhunderts entnommen. Einigermaßen bekannt gemacht hat es Homi K. Bhabha, dem es als Ausgangspunkt für weitreichende Überlegungen zu kultureller Differenz diente. Die Aneignung der Bibel durch die indische Landbevölkerung sei, so Bhabha, von ‚Hybridität‘ geprägt. Er versteht darunter eine Verschiebung, im Zuge derer die Bibel zwar anerkannt, aber auch herausgefordert wird – und dadurch koloniale Herrschaft ambivalent erscheinen lässt. Nicht zuletzt diese Konzeptualisierung von Hybridität, die über die simple Bedeutung von ‚Vermischung‘ hinausgeht, hat Bhabha zu einem der einflussreichsten Theoretiker der postkolonialen Studien gemacht. Die postkolonialen Studien sind, grob gesagt, ein interdisziplinäres Projekt, das sich der Aufdeckung und Überwindung kolonialer Diskurse und Praktiken verpflichtet sieht. Das ‚Post-’ in ‚Postkolonialismus‘ meint folglich nicht eine Zeit ‚nach‘ dem Kolonialismus, sondern spielt auf die geforderte kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialen zu allen Zeiten an. Längst sind postkoloniale Terminologie und Denkfiguren in das Standardrepertoire historischer Arbeiten eingegangen, auch jener, die sich nicht unmittelbar mit Kolonialismus beschäftigen. Begriffe wie ‚Othering‘, also die Konstruktion von Menschen als anders und fremd, oder eben ‚Hybridität‘ gehören selbstverständlich zum geschichtswissenschaftlichen Vokabular, und obwohl Europa für manche Vertreter*innen postkolonialer Studien nicht hinreichend ‚provinzialisiert‘ worden sein mag, will eurozentrische Geschichtsschreibung heute wohlbegründet sein.

Dass Bhabha sein Verständnis von Hybridität an den Verhandlungen um eine, wie er sie selbst einmal nannte, ‚vegetarische Bibel‘ schärfte, führt vor, wie fruchtbar missionarische Begegnungen für postkoloniale Theoriebildung sind. Umgekehrt hat Postkolonialismus die Art und Weise, wie Religions- und insbesondere Missionsgeschichte geschrieben wird, derart nachhaltig bestimmt, dass dessen Einfluss mitunter nicht mehr reflektiert wird. Wenn wir uns im diesjährigen Frankfurter Sommerkurs zur Geschichte der Frühen Neuzeit unter dem Titel ‚Religion postkolonial?‘ jüdischer und christlicher Religionsgeschichte zwischen 1500 und 1800 widmen werden, wollen wir deshalb nicht alleine mit ausgewiesenen Spezialist*innen über aktuelle Forschung diskutieren. Ebenso werden wir theoretisch informiert die Potenziale und Grenzen postkolonialer Ansätze für die historische Untersuchung frühneuzeitlicher Religion ausloten. Gemeinsam werden wir uns mit der Rolle von Religion in der europäischen Expansion, den Handlungsspielräumen nichteuropäischer Akteur*innen sowie mit Kulturkontakt und globaler Verflechtung beschäftigen – und nicht zuletzt mit der grundsätzlichen Frage, wessen Religion in der Frühen Neuzeit überhaupt legitimerweise als ‚Religion‘ gelten durfte.

Der Sommerkurs findet vom 24. bis 26. Juli 2024 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main statt. Er richtet sich an Studierende und Promovierende der Goethe-Universität und anderer Universitäten, die ein einschlägiges Forschungsprojekt verfolgen oder sich schlicht für das Thema interessieren. Neben gemeinsamen Arbeitseinheiten, einem Kino- und einem Museumsbesuch ist geplant, dass einzelne Teilnehmer*innen ihre Masterarbeits- oder Promotionsprojekte vorstellen. Falls Sie daran Interesse haben, fügen Sie Ihrer Anmeldung bitte eine knappe Schilderung Ihres Forschungsvorhabens bei. Ihre Anmeldung – in der Sie kurz die Motivation Ihrer Teilnahme begründen – richten Sie bitte bis 31. Mai 2024 an Michael Leemann (leemann@em.uni-frankfurt.de). Studierende der Goethe-Universität, die die Veranstaltung als Seminar belegen möchten, finden alle nötigen Informationen im Vorlesungsverzeichnis.

Ein Reader mit verpflichtender Lektüre wird den Teilnehmer*innen rechtzeitig zur Verfügung gestellt. Die Teilnahme ist kostenfrei. Für Studierende und Promovierende, die ein Projekt vorstellen, übernehmen wir darüber hinaus Reise- und Übernachtungskosten; den übrigen Teilnehmer*innen können wir einen Zuschuss in der Höhe von 150 € gewähren.

Organisiert von Birgit Emich, Xenia von Tippelskirch und Michael Leemann.

Vorführung des belgischen Dokumentarfilms “Colette et Justin” am 25. Juli.