Moderne Textkultur und die Suche nach Tradition



Drei Fragen an… Judith Müller
zuJüdischer Literatur



Drei für Müller zentrale Autor*innen: Mikha Yosef Berdichevsky, Abbildung: Миха Йосеф Бердичевский, Public Domain, Lea Goldberg, Abbildung: David Eldan, Public domain und David Fogel, Abbildung: Pimbrils, Public Domain.



Sie beschäftigen sich mit dem mitteleuropäischen Judentum und seinem literarischen Schaffen im frühen 20. Jahrhundert. Können Sie zu Beginn ein paar Sätze dazu sagen, in welchen Sprachen und Schriften mitteleuropäische jüdische Schriftsteller*innen zu dieser Zeit schrieben und inwiefern das Schreiben in diesen Sprachen jeweils eine andere Funktion erfüllte?

Judith Müller: Im mitteleuropäischen Raum waren die wichtigsten Sprachen zu jener Zeit Deutsch, Hebräisch und Jiddisch. Das heißt aber nicht, dass Schriftsteller*innen, die wir heute zum vagen Korpus der Jüdischen Literaturen zählen, nicht in anderen europäischen Sprachen sozialisiert wurden oder gar schrieben.

Der Nobelpreisträger Elias Canetti, den wir als deutschsprachigen Autor kennen, wuchs in Bulgarien in einem sephardischen Umfeld auf und war so als Kind unter anderem Judeo-Español ausgesetzt. Deutsch war für viele Juden*Jüdinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Muttersprache und daher ohne Zweifel auch die Literatursprache. Bei Kafka sehen wir aber auch, dass dies nicht heißen muss, dass keine (Selbst)Zweifel über die Zugehörigkeit zum deutschsprachigen Literaturbetrieb bestanden.

In meiner Forschung beschäftige ich mich vor allem mit der hebräischen Literatur in Europa und ihren Berührungspunkten mit anderen Sprachen und Literaturen. Aber auch umgekehrt lässt sich dies denken, wie ich in meinem Habilitationsprojekt zu zeigen vorhabe: In diesem geht es um die Lektüre hebräischer Literatur unter deutschsprachigen Juden*Jüdinnen in den 1920er- und 1930er-Jahren. 


In meinem Habilitationsprojekt stellt sich auch die Frage, ob deutschsprachige Juden*Jüdinnen gerade aufgrund der engen Verbindung zwischen der hebräischen Sprache und den religiösen Schriften lange zögerten, sich der neuen Literatur zu nähern.”


In Ihrer Forschung verknüpfen Sie oftmals biografische Aspekte mit der Untersuchung des literarischen Schaffens eines Autors oder einer Autorin. Wessen Lebenslauf finden Sie unter diesem Gesichtspunkt besonders aussagekräftig und warum?

Judith Müller: Biografische Lesarten liegen oft auf der Hand, denn die meisten von mir untersuchten Texte be- und verhandeln jüdisch-diasporische Existenzen um 1900 und sind daher stark beeinflusst vom Leben des*der Autor*in und den eigenen Erfahrungen. Gleichzeitig sind diese nicht so individuell – Migrationserfahrung ist zum Beispiel weit verbreitet und keine Besonderheit. Besonders spannend ist sicher die Biographie Lea Goldbergs, über die ich bisher kaum publiziert habe, die aber besonders facettenreich ist. Goldberg war Dichterin und Prosaautorin, aber gleichzeitig als Wissenschaftlerin tätig. Sie promovierte in Bonn und war später in der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem tätig. 

Haben Sie Autor*innen untersucht, in deren Werk Religion eine besondere Rolle spielt?

Judith Müller: Religion in ihrer institutionalisierten Form spielt in meinen Forschungen kaum eine Rolle, abgesehen von der Tatsache, dass sehr viele Autoren in der Zeit, die ich untersuche, ihre formativen Jahre in der hebräischen Literatur an den großen Talmudschulen in Osteuropa erlebten.

Was aber durchaus prägend ist für diese Dekaden, ist ein Diskurs über Religion, die beobachteten und miterlebten Säkularisierungsprozesse und auch über die eigene Suche nach Halt, nachdem die Schreibenden religiöse Strukturen zurückgelassen hatten. So ist die Suche nach der Tradition – die viele religiöse Aspekte beinhaltet – auch in der modernen jüdischen Textkultur weiter gegeben. Mikha Yosef Berdichevsky sammelte zum Beispiel, ähnlich wie Martin Buber, Sagen und publizierte diese in hebräischer Sprache und deutscher Übersetzung, bei der ihm seine Frau tatkräftig half.

Darüber hinaus ist es vor allem die Sprache selbst und damit die Essenz der Literatur, die ihre Verbindung zum Religiösen nie ganz verliert: Der Rückgriff auf Zitate aus der Bibel und damit das biblische Hebräisch galt einigen Autor*innen als besonders ästhetisch und ist unabhängig davon Teil der hebräischen Textkultur und damit unabdingbar intertextueller Referenzraum. In meinem Habilitationsprojekt stellt sich auch die Frage, ob deutschsprachige Juden*Jüdinnen gerade aufgrund dieser engen Verbindung zwischen der hebräischen Sprache und den religiösen Schriften lange zögerten, sich der neuen Literatur zu nähern. 

Mehr zum Thema:
Müller, J. (2024), “Odessa als literarische Schwelle, oder: Als die hebräische Literatur den Raum der europäischen Moderne betrat”, Schnittstelle Germanistik 4,1, S. 191-204, doi: https://doi.org/10.33675/SGER/2024/1/14
Müller, J. (2022), “Nationalliteratur oder europäische Literatur in hebräischer Sprache? David Fogel und Gershon Shofman zwischen Hebräisch, Jiddisch und Deutsch”, in Reichert, C., Bannasch, B. und Wildfeuer, A. (Hgg.), Zukunft der Sprache – Zukunft der Nation? Verhandlungen des Jiddischen und Jüdischen im Kontext der Czernowitzer Sprachkonferenz. DeGruyter (Conditio Judaica), S. 203–217.

Judith Müller ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Buber-Professur und Koordinatorin des Buber-Rosenzweig-Instituts und des Frankfurt-Tel Aviv Center for the Study of Religious and Interreligious Dynamics. Sie wurde an der Universität Basel und der Ben-Gurion Universität des Negev promoviert und finalisiert derzeit ein Buchprojekt zur europäisch-hebräischen Literatur vor und nach dem Ersten Weltkrieg.

In der Reihe “Drei Fragen an…” stellen wir in loser Folge Wissenschaftler*innen der Goethe-Universität und ihre Forschungsprojekte zu den Themen Religion und Religiosität vor. Die Fragen stellte Louise Zbiranski.