Der Film “Der Rhein fließt ins Mittelmeer” setzt sich in assoziativer Montage mit der Gegenwart der Shoah in Israel, Deutschland und Polen auseinander.


Interview mit dem Regisseur Offer Avnon


Wir haben mit Offer Avnon über den Antrieb hinter seiner Arbeit und seinen Zugang zur Thematik gesprochen.



Louise Zbiranski (LZ): Sie haben rund zehn Jahre an dem Film “Der Rhein fließt ins Mittelmeer” gearbeitet und von seiner inhaltlichen Konzeption bis hin zum Schnitt alles selbst übernommen. Was hat Sie motiviert, so viel zu investieren?

Offer Avnon (OA): Hier sind mehrere Antworten möglich, aber welche ist die entscheidende? Liegt es daran, dass die Shoah für mich immer gegenwärtig war? So geht es aber einigen Menschen, doch nicht jeder von ihnen will sich damit durch einen Film auseinandersetzen. Vielleicht spielen also persönliche Gründe eine wichtige Rolle?

In meinem 20. Lebensjahr habe ich angefangen, zu fotografieren. Was mich nach und nach fasziniert hat, war die Möglichkeit, etwas einzufangen, das sich nicht mit Worten fassen lässt. Diese Faszination spiegelt sich auch im Film wider. Zudem waren in meinem Leben die Themen Tod und Gedenken stets präsent: Meine Mutter hat ihren einzigen Bruder verloren. Er ist 1969 als junger Soldat im Krieg gefallen.

Die „Antwort“ meiner Mutter auf seinen Tod bestand darin, rund ein Jahr später mich auf die Welt zu bringen und mich nach ihm zu benennen. Das war ihre „Rache“, wie sie mir einst sagte, und mein Leben war von Anfang an davon geprägt. Je älter ich geworden bin, desto stärker spürte ich einen inneren Widerstand dagegen: Diese Feierlichkeit, persönlich und kollektiv zugleich, hat mich geprägt, lastete aber sehr schwer auf mir. Fast feindlich. Als ob das Ganze mir sagte, dass mein Leben mir nicht zusteht. 

Was war das Entscheidende? Ich habe den Film gemacht, weil ich ihn machen musste. Ich wusste nicht von Anfang an, dass es zehn Jahre dauern wird, und diese Dauer hat offensichtlich auch mit einer seltsamen Form von Ehrgeiz zu tun.


Diese Feierlichkeit, persönlich und kollektiv zugleich, hat mich geprägt, lastete aber sehr schwer auf mir. Fast feindlich. 


LZ: Im Film setzen Sie sich intensiv mit der Frage auseinander, inwiefern die Shoah vergleichbar ist. Hat die Arbeit an dem Film Sie einer Antwort näher gebracht?

OA: Gerade diese Frage, die Frage der Einzigartigkeit der Shoah, weckt heftige Emotionen. Der Grund hierfür ist wohl, dass es zwei Möglichkeiten gibt, zu vergleichen: Es gibt die Möglichkeit, zu vergleichen, um etwas besser zu verstehen, und es gibt die Möglichkeit, zu vergleichen, um Politik zu betreiben, also z.B. um Dinge zu relativieren oder um ihre Bedeutung besonders herauszustellen. 

Was gibt es nun aus der Shoah zu lernen? Vielleicht lässt sich das nicht so pauschal beantworten und ich glaube nicht, dass die Shoah passiert ist, um den Menschen etwas zu lehren. Dennoch ist es notwendig, zu versuchen, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, und das wird bekanntlich viel zu selten getan. Jedoch sollten wir im Hinterkopf behalten, dass diese Lehren mindestens von den Weltanschauungen, und manchmal sogar von Interessen geprägt sein werden.

Wichtig ist mir zugleich, zu betonen, dass der Film nicht versucht – weder historisch noch philosophisch –, der Frage nach der Vergleichbarkeit der Shoah nachzugehen. Diese Frage ist im Film anwesend, sie treibt mich an manchen Stellen als Interviewer an – doch nicht als Filmemacher. Was den Film vorantreibt, ist eine Suche. Das Ziel ist, durch die Aufzeichnung und Zusammensetzung von Dingen etwas unter der Oberfläche näherzukommen, etwas über die menschliche Erfahrung greifbar zu machen. Aber was ist es genau? Es hat keinen Namen. 

LZ: Der Film beschäftigt sich mit „blinden Flecken“ und Unsagbarkeiten in der historischen Erinnerung. Gleichzeitig bleibt für mich zumindest teilweise offen, wie stark Sie diese Unsagbarkeiten in der individuellen Persönlichkeit oder in der nationalen Erinnerungskultur begründet sehen. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen individuellem Nicht-Sehen(-Wollen) und nationaler Erinnerung?

OA: Ich sehe einen starken Einfluss von nationalen Werten auf die individuelle Sichtweise. Wir sind in Israel von der Shoah geprägt. Holocaustüberlebende, die nach Israel kamen, haben unmittelbar nach dem Grauen in Europa für die Existenz ihres neuen souveränen Staates gekämpft. Der Übergang von Entwurzelung und Hilflosigkeit, zum aktiven Aufbau eines souveränen, starken Staates, dort, wo die einst verlorene und stets ersehnte Heimat war, ist bekanntlich die zionistische Geschichte. Diese Prägung ist immer noch lebendig.

Meiner Beobachtung nach gehört das Nicht-Sehen-Wollen nicht exklusiv der Zeit der Massenvernichtung an. Es ist ein verbreitetes menschliches Phänomen, ein psychologischer Mechanismus, Dinge nicht sehen zu wollen, oder sie tatsächlich gar nicht wahrzunehmen, wenn sie bei uns großes Unbehagen wecken würden. Doch dieses Nicht-Sehen tritt, glaube ich, noch stärker auf, wenn wir uns als Individuen sowieso machtlos fühlen. Diese Tendenzen können zudem durch das Kollektiv verstärkt werden, zum Beispiel, wenn das, was besser nicht gesehen werden sollte, das Ansehen oder Integrität der Zugehörigkeitsgruppe gefährdet. Wenn man etwas gar nicht sieht, muss man darüber auch nicht nachdenken. 

LZ: Ich finde, Ihr Film besticht dadurch, dass er an vielen Stellen – wiewohl aus meiner Sicht nicht durchgehend – ambivalent, offen und nicht urteilend bleibt. Wie schwer war es für Sie selbst, diesen Blick bei der Produktion beizubehalten?

OA: Der Film ist keineswegs neutral und versucht nicht „objektiv“ zu sein. Im Gegenteil, der Film ist höchst subjektiv. Es ist eine bewusste Absicht und liegt im Kern meiner Arbeit. Die Ambivalenz hat auch mit meinem Charakter und meiner Biografie zu tun. Weshalb bin ich, als Sohn eines Holocaustüberlebenden überhaupt nach Deutschland gegangen und habe dort zehn Jahre gelebt? Nicht trotz der Vergangenheit, sondern deswegen. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt. 

Meine Identität, wie bei vielen Emigranten, wäre wahrscheinlich auch ohne unsere düstere Geschichte etwas zerrissen gewesen. Diese gewisse Zerrissenheit bedeutet aber nicht, dass ich kein Urteil habe, aber ich wollte es mit Blick auf den Film dem Zuschauer überlassen. Der Zuschauer sollte nicht mit meiner Meinung konfrontiert werden, sondern mit der Zusammensetzung und Wechselwirkung von unterschiedlichen Aussagen, Reaktionen und audiovisuellen Eindrücken. Das ermöglicht eine interessantere Erfahrung. 


Dieses Nicht-Sehen tritt, glaube ich, noch stärker auf, wenn wir uns als Individuen sowieso machtlos fühlen. Diese Tendenzen können zudem durch das Kollektiv verstärkt werden. 


LZ: Ist das auch die Art Blick, die Sie versuchen, auf das aktuelle Geschehen nach dem siebten Oktober zu richten? Welche Art Blick ist gegenwärtig nötig und möglich?

OA: Es gibt hier einen prinzipiellen Unterschied. Bei dem Film handelt es sich um Auseinandersetzung mit der Gegenwart einer traumatischen Vergangenheit. Hier und jetzt hingegen herrscht eine Kriegssituation. In Haifa, wo ich lebe, gab es in den letzten 24 Stunden schon drei Raketenangriffe. Zusammen mit meinen arabischen Nachbarn rannte ich ins Treppenhaus, weil keiner von uns einen Schutzraum hat. Im Vergleich zu anderen Gebieten ist es hier noch ruhig und sicher. Dieser Krieg findet seit einem Jahr statt, und man weiß nicht mal, ob und wie er ein Ende finden wird. 

Die brennenden Fragen, mit denen uns die Gegenwart konfrontiert, sind also von einem anderen Charakter, als diejenigen, die uns der Film stellt. Die gegenwärtigen Fragen sind konkret: Sie sind politisch, strategisch, praktisch und rechtlich. Der Spagat zwischen humanistischen Werten und einer Kriegsführung, bei der es um die Existenz geht, ist schwer, vor allem, wenn gegen Terrororganisationen gekämpft wird.

Meine Hoffnung ist, dass die Freunde Israels einen Weg finden, Israel zu unterstützen, ohne Netanjahu und die Rechtsextremisten zu stärken. Es ist tragischerweise oft unmöglich und eine andere Regierung ist notwendig – die aber leider noch nicht in Sicht ist. Die Gesellschaft in Israel hält zum großen Teil stark zusammen, ist aber ideologisch mehr und mehr zerrissen. Ganz furchtbar und für die Gesellschaft zerstörerisch, ist die Tatsache, dass noch so viele Entführte in Gefangenschaft sind und man sieht, dass nicht alles für ihre Befreiung getan wurde, dass der Wert des menschlichen Lebens für die Regierung nicht die erste Priorität ist. 

Ich denke, dass Israel, solange es auf seine demokratischen, humanistischen Werte nicht verzichtet, seine moralische Existenzberechtigung behält. 

Der Film “Der Rhein fließt ins Mittelmeer” wird unter Beteiligung der “Schnittstelle Religion” und des Forschungsverbundes “Dynamiken des Religiösen” am 6. und 7. November 2024 in Frankfurt gezeigt.