Übersehen, verhandeln, verfolgen? Christliche Pluralität in der Frühen Neuzeit

Interview mit Andreea Badea (Frankfurt) und Alexandra Walsham (Cambridge)



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Louise Zbiranski (L.Z.): Wenn man über religiöse Vielfalt spricht, denkt man meist zunächst an das Neben- und Miteinander von Angehörigen unterschiedlicher Religionen. Daher fällt einem beim Stichwort „religiöse Pluralität in der Vormoderne“ schnell Andalusien ein, wo muslimische, jüdische und christliche Menschen lange Zeit gemeinsam lebten. Die Frage danach, wie religiöse Pluralität verhandelt wurde, stellt sich aber auch für Regionen, die (scheinbar) von einer der großen Religionen dominiert wurden. Immerhin waren und sind diese in sich selbst vielfältig und von unterschiedlichen Strömungen und Interessen geprägt. Um den Umgang mit dieser inneren Pluralität im Christentum der Frühen Neuzeit geht es in Ihrer Forschung. Können Sie zum Einstieg kurz umreißen, mit welchen Aspekten religiöser Vielfalt Sie sich beschäftigt?

Alexandra Walsham (A.W.): Ich arbeite in erster Linie zu den britischen Inseln, wobei ich die Entwicklungen dort im größeren Rahmen Europas sehe. Es ist wahrscheinlich eine verkürzte Sichtweise, das späte Mittelalter, also grob die Zeit vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, auf den britischen Inseln als eine monolithische, religiös einheitliche Kultur zu betrachten. Dennoch ist es hier wie auch anderswo insbesondere die anschließende Reformation, die die von mir untersuchte Periode eröffnet, die zu religiöser Pluralisierung führt – und zwar zu einer Pluralisierung, die als unerwünschten, ja als ein regelrechtes Schreckgespenst erlebt wird. Mich interessiert insbesondere, wie die Menschen mit dieser Pluralität lebten. Hier ist es hilfreich, sich ein paar der historischen Rahmenbedingen dieser Vielfalt auf den britischen Inseln ins Gedächtnis zu rufen.

Zunächst ist daran zu erinnern, dass diese Pluralität unter anderem die Folge davon ist, dass der Staat im Verlauf der Reformation einen grundlegenden Wandel in der Religion diktierte. Viele Einzelpersonen mussten daher Mitte des 16. Jahrhunderts eine Reihe von Veränderungen durchmachen, die sich aus dem Tod von Monarchen ergaben. Insbesondere aus den kurzlebigen Regierungen des protestantischen Edwards VI (von 1547 bis 1553 König von England und Irland) und der katholischen Maria I (von 1553 bis 1558 Königin von England und Irland) folgten rasche Umkehrungen in der offiziellen Religionspolitik.


„Dissens, protestantisch-sektiererisch Dissens wurde zum unausrottbaren Merkmal der englischen und britischen Gesellschaft. Seine Auswirkungen führen schließlich zu dem Versuch, einen Ausweg zu finden: im später sogenannten Act of Toleration von 1689.“

Alexandra Walsham

Hinzukommen andere Aspekte, die die Reformation in Großbritannien, insbesondere in England, speziell machen. Mit der Church of England wurde eine breit angelegte Institution geschaffen, in der es vorrangig darum ging, äußere Konformität und äußeren Gehorsam zu erzwingen, und die weniger versuchte, den inneren Glauben zu beeinflussen – so zumindest der Anspruch dieses Regimes. Und bis zu einem gewissen Grad stimmte das auch: Wenn auch unter schwierigen Umständen, so konnten Katholiken*innen ihren Glauben zu Hause doch weiter praktizieren. Solange sie zumindest bisweilen die reformierte Kirche besuchten, konnten sie sich so um das Gesetz herumdrücken.

Die Auswirkungen dieser eher unvollkommenen Reformation in England führten dazu, dass andere Gruppen innerhalb des protestantischen Establishments mit den religiösen Regelungen unzufrieden waren, sodass es innerhalb der Institution einen Dissens gab. Dieser Dissens wiederum war einer der Hauptfaktoren im Hintergrund des Bürgerkriegs, der 1642, also rund 100 Jahre nach der Reformation ausbrach. In seiner Konsequenz schwand die religiöse Kontrolle weiter – selbstverständlich mit dem Effekt, dass sich der innerprotestantische Dissens verfestigt. Dissens, protestantisch-sektiererisch Dissens wurde zum unausrottbaren Merkmal der englischen und britischen Gesellschaft. Seine Auswirkungen führen schließlich zu dem Versuch, einen Ausweg zu finden: im später sogenannten Act of Toleration von 1689.

Andreea Badea ist Post-Doktorandin an der Goethe-Universität und Mitglied der POLY-Forschungsgruppe.

Alexandra Walsham ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der University of Cambridge. Von Mai bis Juli 2023 war sie POLY-Forschungsstipendiatin.

L.Z.: Frau Badea, Sie arbeiten zu derjenigen Religion, die wie das Paradebeispiel für eine einheitliche Religion erscheint – der katholischen Kirche. Wie kommt Pluralität bei Ihnen ins Spiel?

Andreea Badea (A.B.): Ich arbeite über katholische Geschichtsschreibung und Zensur in der römisch-katholischen Kirche im 17. Jahrhundert. Als ich mit meiner Forschung hierzu begann, ging ich davon aus, dass ich eine einheitliche, korporative Institution untersuchen würde, deren Hauptziel und auch -schwierigkeit es sein würde, ihre eigenen Meinungen oder ihre eigenen theologischen, politischen und diplomatischen Ansichten in einer großen Anzahl von frühneuzeitlichen Territorien durchzusetzen. Ich ging von den Arbeiten von Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling und ihrer Idee der Konfessionalisierung aus, also der Annahme, dass sich nach der Reformation, Staat, Gesellschaft und Kirche in einer wechselseitigen Verschränkungen herausbildeten, wodurch auch die einzelnen Konfessionen in sich eine immer größere Geschlossenheit und Einheitlichkeit erlangten. 

Was ich also anfangs suchte, waren Punkte, an denen Konfessionalisierung stattfand, Momente, in denen dieser katholische Monolith sich zu formieren begann und eine Weltreligion wurde. Als ich anfing zu lesen und mit anderen Forscher*innen zu sprechen, die auf diesem Gebiet arbeiteten, und vor allem, als ich die Arbeiten von Simon Ditchfield las, stellte ich allerdings fest, dass der frühneuzeitliche Katholizismus selbst ein heterogenes, vielschichtiges Konglomerat von theologischen Überzeugungen und Praktiken war, das nur durch das Papsttum zusammengehalten wurde. Das Papsttum hatte wenigstens die Macht, Schweigen zu bewirken, Schweigen darüber, wo die Orden, die Theologen und die Gelehrten allgemein anfingen, uneins zu sein. 


Die Kurie tat alles, um die italienische Halbinsel religiös zu vereinheitlichen, dennoch stimmt die klassische Erzählung, dass es ihr bis zu den 1580er-Jahren gelungen sei, jede Form religiöser Vielfalt, jede religiöse Opposition in Italien niederzuringen, so nicht.“

AndrEea BadeA

Denn wenn wir die frühneuzeitliche, katholische Geschichte betrachten, sehen wir eine Menge Dissens, eine Menge Streitigkeiten z.B. darüber, wie Gnade zu gewähren ist, aber auch über praktische Aspekte wie die Kleidung innerhalb der Orden oder über den spezifischen Glauben der Orden. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Karmeliter, die fest davon überzeugt waren, Nachkommen von Maria und dem Propheten Elias zu sein – was andere Orden und Gelehrte allgemein vehement bestritten und als regelrecht lächerlich betrachteten. Um die Situation zu befrieden, erlaubte ihnen der Papst zwar den Glauben an ihre Abstammung zu pflegen, sie durften diese Auffassung aber nicht nach außen vertreten. Damit bot sich das Papsttum – wie auch in anderen Streitigkeiten – als Richter über all das an, was sich katholisch nennt.

Blickt man nun auf die Region, die bei mir im Fokus steht, Italien, ist eines wichtig zu unterstreichen: Natürlich gibt es hier zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Reihe religiöser Gruppe. Dazu gehörte verschiedene protestantische Bewegungen, die allerdings im Verlauf des Jahrhunderts unnachgiebig bekämpft wurden. Die Kurie tat alles, um die Halbinsel religiös zu vereinheitlichen, dennoch stimmt die klassische Erzählung, dass es ihr bis zu den 1580er-Jahren gelungen sei, jede Form religiöser Vielfalt, jede religiöse Opposition in Italien niederzuringen, so nicht. Die intensive Arbeit der verschiedenen Lokalinquisitionen belegt dies.

Eines der Felder, das Gelehrte im gleichen Maße wie einfache Gläubige beschäftigte, war die Geschichtsschreibung, zu der damals die Hagiografie wie selbstverständlich dazugehörte, also die Beschreibung der Heiligenleben. Gelehrte bemühten sich, Katholiken wie Nichtkatholiken von der Bedeutung dieser Blutzeugen für die Wahrheit ihres Glaubens zu überzeugen. Doch stritten sie nicht nur über die Authentizität diverser Viten und den damit verbundenen Heiligen. Heilige wurde bisweilen eine eigene Agency übertragen, weshalb die Debatten schnell den gelehrten Rahmen sprengen und politisch werden konnten. Solche Debatten schaue ich mir in meiner Arbeit an. Es geht in also um innerkatholische, wenn man so will: „innermonolithische“ Pluralität, die aber bis in die späten 1980er-Jahre von der Forschung nicht gesehen wurde.

A.W.: Das ist interessant, denn genau das Gleiche geschah Mitte des 17. Jahrhunderts in Großbritannien, wo die Anhänger der Reformation innerhalb der Reformation bekämpft wurden. Es ist also eine Zersplitterung der Reformation. Und sie sind genauso bösartig, wenn nicht noch bösartiger, gegen ihre eigene Seite, wie gegen die römischen Katholiken.

L.Z: Auffällig ist, dass Sie beide angesprochen auf religiöse Pluralität betonen, wie stark unter denjenigen, die sich mit Vielfalt konfrontiert sahen, der genau gegenteilige Wunsch, nämlich der nach religiöser Einheit vorherrschte.

A.W.: Es gibt hier ein Paradoxon, nicht wahr? Just das Streben nach einer einzigen Form der Wahrheit schafft die Umstände, unter denen es zu dieser enormen Fragmentierung kommt. Aus diesem Streben nach Einzigartigkeit, Einheitlichkeit und Einheit ergeben sich also die Umstände, unter denen sich die Vielfalt ausbreitet.

L.Z.: Warum ist denn Einheit so wichtig für die Akteure der Zeit?

A.W. Einheitlichkeit ist ihnen wichtig, weil sie glauben, dass Einheit für die politische und soziale Ordnung notwendig ist. Und ohne diese würden sie in teuflischer Anarchie und Chaos versinken. Diese Annahme wird natürlich im Laufe der Zeit immer mehr auf die Probe gestellt. Allein die Tatsache, dass sie mit dieser Pluralität leben müssen, die sie nicht auslöschen können, bedeutet, dass sie beginnen müssen, die Annahme, dass Vielfalt überwunden werden muss, zu überdenken und widerwillig zuzugeben, dass es vielleicht nicht ideal, aber möglich ist, mit Menschen zu leben, die andere Ansichten vertreten. Und natürlich liegt darin eine weitere Ironie: Wie Sie eingangs erwähnten, Frau Zbiranski, gab es durchaus Zeiten und Regionen, in denen man mit einer viel größeren Vielfalt umgehen konnte: Was hat es also mit der Reformation auf sich, dass die Bedeutung der Einheitlichkeit so zunimmt?

Wir stellen uns die Geschichte der vormodernen Welt oft als einen Übergang von der Verfolgung zur Duldung vor. In Wirklichkeit handelt es sich aber um einen viel zyklischeren, komplizierteren Prozess, bei dem die Reformation eine weitere Etappe in dem Versuch ist, die Bedeutung der Einheitlichkeit zu bekräftigen. Dies ist, wie Andreea Badea sagte, mit dem Entstehen starker Verbindungen zwischen Religion und Politik verbunden. Durch die Verknüpfung von politischer Autorität und religiöser Zugehörigkeit entstehen in Großbritannien wie auch in anderen Teilen Europas die Voraussetzungen dafür, dass das Streben nach Einheitlichkeit sowohl zu einer politischen als auch zu einer kirchlichen Angelegenheit wird. Und das, so denke ich, macht diese Fragen im Laufe der Zeit immer dringlicher und heikler.


Es gibt hier ein Paradoxon. Just das Streben nach einer einzigen Form der Wahrheit schafft die Umstände, unter denen es zu dieser enormen Fragmentierung kommt.“

Alexandra Walsham

L.Z.: Gesamtgesellschaftlich steht hinter dem Streben nach religiöser Einheit also oft eine bestimmte Überschneidung von politischen und religiösen Interessen. Aber wie sieht es mit individuellen moralischen Überzeugungen aus, mit der Annahme, dass es eine Pflicht gibt, Andersgläubige auf „rechten Weg“ zu führen und so zu retten?

A.W.: Das spielt definitiv auch eine Rolle! Es gibt eine sehr starke augustinische Tradition, die besagt, dass es die Pflicht ist, den Abtrünnigen zu zwingen, auf den Pfad der Rechtschaffenheit zurückzukehren, und es gilt tatsächlich als ein Akt des Mitgefühls und der verpflichtenden Nächstenliebe, den Sünder auf den Pfad des Heils zurückzubringen. Das ist ein grundlegendes Prinzip, auf dem Handlungen des Zwangs, der religiösen Disziplin, der Kontrolle und all dessen, was die Gegner als Verfolgung ansehen würden, beruhen.

Dieser moralische Moment ist also ein sehr wichtiges Element. Ich denke, eine interessante Fragen für Historiker*innen ist, wann dieser paradoxe Strang des augustinischen Mitgefühls, des Zwangs, der Überzeugung weicht, dass die moralische Verpflichtung eigentlich nicht darin besteht, zu verfolgen, sondern andere Wege zu suchen, um die durch den Pluralismus entstandenen Probleme zu lösen.

A.B.: Meines Erachtens hat sich die Idee, dass es die „Ketzer“ durch Verfolgung zu retten gelte, sehr lange gehalten und ohne die praktischen Probleme, vor denen man in einer multi-religiösen Welt stand, hätte sich sicher wenig geändert. Ich denke, einer der ersten Schritte, auf dem Weg zu mehr Toleranz, war das schlichte Ignorieren, die Bereitschaft, einfach nicht hinzusehen, solange Probleme nicht absolut dringlich wurden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Umgang mit Kirchenbau. Selbst in Städten, in denen religiöse Minderheiten grundsätzlich Gotteshäuser errichten konnten, galt dies nur so lange, wie deren Größe nicht störte, wie sie unauffällig blieben, in Privathäusern untergebracht wurden etc. Das war das Maximum an Toleranz, das genauso lange möglich war, wie man den anderen Glauben nicht sehen musste.


Meines Erachtens hat sich die Idee, dass es die „Ketzer“ durch Verfolgung zu retten gelte, sehr lange gehalten und ohne die praktischen Probleme, vor denen man in einer multi-religiösen Welt stand, hätte sich sicher wenig geändert.“

AndrEea BadeA

L.Z..: Gar nicht so unähnlich heutigen Streitigkeiten über die Höhe von Minaretten oder den Muezzinruf.

A.B. Ein anderer Weg, auf Diversität zu blicken bzw. nicht zu blicken, war die Art und Weise, wie zumindest die Katholiken ihren Literaturkanon etablierten. Sie sind rein negativ vorgegangen, sie haben lediglich einen negativen Kanon erstellt, in den die Werke aufgenommen wurden, die definitiv verboten war. Es ging nie darum, wirklich zu bestimmen, welche Werke richtig oder gut sind, sondern nur darum, das Falsche auszusortieren und es auf den Index zu setzen. Das ist ein sehr scholastisches, katholisches Vorgehen.

Tatsachlich war Teil dieses Vorgehens aber auch der Versuch, ein quasi wissenschaftliches Verfahren zu etablieren, um das Falsche, Unpassende, Häretische zu identifizieren und zu isolieren. Das ist die katholische Vision. Und trotzdem: Auch wenn man es nicht Toleranz nennen kann, ist es ein erster Schritt, mit der unbeherrschbaren Vielzahl von Meinungen umzugehen und eine erste Einsicht, dass deren echte Kontrolle und Uniformierung nicht möglich ist.


Eine sehr wichtige Dimension in der Dynamik der religiösen Koexistenz ist die Bereitschaft, bestimmte Dinge zu identifizieren, die zur Rechtgläubigkeit gehören, an die man sich halten muss. Dieses Bestreben führt aber auch dazu, dass es eine Reihe anderer Themen gibt, bei denen die Menschen sich einig sind, dass sie unterschiedlicher Meinung sein können.“

Alexandra Walsham

A.W.: Eine sehr wichtige Dimension in der Dynamik der religiösen Koexistenz in Großbritannien wie auch anderswo ist die Bereitschaft, bestimmte Dinge zu identifizieren, die zur Rechtgläubigkeit gehören, an die man sich halten muss und ohne die die Wahrheit des Christentums nicht aufrechterhalten werden kann. Dieses Bestreben führt aber auch dazu, dass es eine Reihe anderer Themen gibt, bei denen die Menschen sich einig sind, dass sie unterschiedlicher Meinung sein können. So entsteht ein Bereich bestimmter religiöse Überzeugungen, mit Blick auf die die Leute sagen: „Nun, eigentlich sind diese Dinge es nicht wert, Menschen zu töten, sie sind es nicht wert, darum zu kämpfen.“

Bestimmte Kernthemen, wie z.B. der Glaube an die Dreifaltigkeit, sind nicht verhandelbar, aber andere Dinge an den Rändern werden mit der Zeit nicht mehr als so grundlegend betrachtet, als dass man nicht Wege finden könnte, um verschiedene Sichtweisen darauf unterzubringen. Ich denke, auch das ist eine wichtige Grundlage für Toleranz. Und dieses Prinzip, dass es Dinge gibt, mit denen man nicht einverstanden ist, kann dann sukzessive auf weitere Themen ausgeweitet werden. Letztlich gibt es dann nur noch sehr wenige Themen, bezüglich derer sich die Menschen einig sein müssen.

A.B. Mit der Dreieinigkeit weist Du auf einen zentralen Punkt hin: Was akzeptabel ist, hängt auch immer vom Kontext und der konkreten historischen Situation ab. In Transsilvanien war Anti-Trintarische Kirche, die die Dreifaltigkeit leugnet, in der Frühen Neuzeit eine durch die protestantischen Gemeinschaften akzeptierte Kirche. Das ist ziemlich einmalig in Europa und hängt einerseits damit zusammen, dass nach Transsilvanien besonders viele Anti-Trinitarier geflohen waren, aber andererseits – und vor allem – auch damit, dass man sich im Grenzland zu mehrheitlich muslimischen Gebieten befand, während in Transsilvanien selbst auch die katholische und die orthodoxe Minderheit den Protestanten Konkurrenz machten. Vor dem Hintergrund dieser spezifischen religiösen Konstellation schafften es die Anti-Trinitarier, z.B. in Kronstadt Teil der deutschen protestantischen Gemeinde zu werden, und konnten in den Räten und Gremien mitbestimmen. Da ging man pragmatisch vor, ohne allerdings, dass dadurch der theologische Disput geklärt gewesen wäre.

L.Z.: Das bringt auch einen interessanten methodologischen Punkt auf: Wenn man sich mit Toleranz und dem Umgang mit religiöser Pluralität auseinandersetzt, wurden lange vor allem auf intellektuelle Entwicklungen und die Texte der „großen Denker“ scharfgestellt. In den letzten rund 30 Jahren hat sich der Fokus aber in Richtung der Alltagsgeschichte und des täglichen Umgangs miteinander verschoben. Was sind Chancen und Schwierigkeiten bei einem solchen Perspektivwechsel?

A.W.: Es gibt in den letzten 20 Jahren in der Tat einen sehr ausgeprägten Trend der Abkehr von der intellektuellen Geschichte der Toleranz, die für viele, viele Jahre der dominierende Ansatz war, hin zur Sozialgeschichte der Toleranz im täglichem Leben. Der Blick richtet sich verstärkt auf einfache Menschen, die sich nicht so sehr an gelehrten philosophischen Abhandlungen, die oft als Wahrzeichen der westlichen Moderne angesehen werden, orientieren. Stattdessen wird versucht, mikrohistorisch nachzuvollziehen und zu rekonstruieren, wie Gemeinschaften tatsächlich in der Praxis gelebt haben, indem man z.B. darauf schaut, wer das Testament eines Nachbarn bezeugt, mit wem Menschen Umgang haben, wer ihre Kinder tauft oder Taufpate wird – auf diese Art von Fragen wird nun verstärkt geschaut, in der Annahme, dass diese Interaktionen ideologische Unterschiede ausgleichen oder abmildern können.

Ich denke, eine der Herausforderungen dieses Ansatzes besteht darin, dass er manchmal dazu führen kann, das ältere „Whigg-Modell“, das durch eine starke Teleologie gekennzeichnet war, umzukehren: Statt mit der Annahme, dass es eigentlich gelehrte Eliten waren, die die Offenbarung brachten, dass Toleranz der Weg nach vorne sei, steht man nun unter Umständen mit der Umkehrung da, nämlich mit einer Sozialgeschichte der Toleranz, die versucht ist, zu sagen, dass es ein Bottom-up-Prozess war, in dem es der „gesunde Menschenverstand“ und die praktischen Rationalität waren, die zu Toleranz und zur Überwindung von Vorurteilen und ideologischen Konflikte führte. Ich denke, hier besteht die Gefahr einer etwas zu sentimentalen Sichtweise auf die sozialen Beziehungen vor Ort.

Diese Sichtweise spricht natürlich unser eigenes modernes Empfinden an. Sie erlaubt uns, uns zu beglückwünschen, dass wir Teil einer toleranten liberalen Gesellschaft sind. Aber wir sollten die anhaltenden Spannungen und den latenten Virus von Vorurteilen und Gewalt nicht aus den Augen verlieren, der unter der Oberfläche der sozialen Interaktionen brodelte. Man könnte auf einen früheren Punkt zurückkommen: Es gibt tatsächlich ein moralisches Dilemma, ob man andere Menschen tolerieren kann oder nicht.

A.B.: Und wir sollten uns immer daran erinnern, dass wir diese Alltagsgeschichte in der Regel aus juristischen Quellen rekonstruieren. Das heißt, wir haben es mit Leuten zu tun, die vor einem Richter stehen: Wie wahrscheinlich ist es, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagen oder Dinge beschönigen?

A.W.: Ja, das sind Quellen, die wir stets gegen den Strich lesen müssen.

A.B.: Und dann stellt sich natürlich auch die Frage, wieso bestimmte Sachen unter Umstände jahrelang toleriert bzw. einfach übersehen wurden und dann plötzlich vor dem Gericht landen… Es sind genau diese Punkte, wenn Toleranz dann doch auf einmal wieder brüchig wird, wo wir genau hinschauen und uns fragen müssen: Worauf basierte das vorherige Mit-Einander-Auskommen und warum geht es auf einmal nicht mehr? Was sind die Gründe dafür?


Wir sollten uns immer daran erinnern, dass wir Alltagsgeschichte in der Regel aus juristischen Quellen rekonstruieren. Das heißt, wir haben es mit Leuten zu tun, die vor einem Richter stehen: Wie wahrscheinlich ist es, dass sie nicht die ganze Wahrheit sagen?“

AndrEea BadeA

A.W.: Neben den juristischen gibt es noch andere Quellen, die uns auf indirektere Weise zu diesen Fragen nach der Toleranz anregen. Ich denke da an die katholische Kasuistik, an Gewissensfragen, die versuchen, zu entscheiden, was man in bestimmten Situationen tun soll, z.B. wenn die protestantischen Nachbarn zum Abendessen kommen: Was soll man tun? Soll man sie bedienen? Soll man sie zurechtweisen, wenn sie bei Tisch anfangen, gegen die Kirche in Rom zu polemisieren? Oder sollte man einfach ein Auge zudrücken?

Und natürlich sollte man auch betonen, dass Tolerieren, dass Dulden in jeder Gesellschaft bedeutet, sich nicht so zu verhalten, wie man glaubt, dass es eigentlich richtig wäre, nämlich die Falschheit dieser Menschen einzudämmen. Tolerieren ist ein Akt der Unterlassung. Es ist ein Akt des Übersehens, des Duldens und des Nachgebens, aus welchen Gründen auch immer. Es ist also eine methodische Herausforderung für Historiker*innen, dieses Tolerieren zu rekonstruieren, weil es im Schweigen und in den Lücken lauert. Daher besteht aber auch die Gefahr, die Bedeutung dieser Lücken und dieses Schweigens zu überinterpretieren und z.B. zu viel über die Motivation abzuleiten, wenngleich diese Motivation oft nicht gar nicht artikuliert wird und wir keine Begründung für eine Handlungsweise geliefert bekommen.

A.B.: Während deines Aufenthalts in Frankfurt hast Du auch über Höflichkeit gesprochen, die ja auch eng mit diesen Praktiken des Nicht-Hinsehens verbunden ist.

A.W.: Ja, das ist eine interessante Gegenüberstellung, nicht wahr? Denn Höflichkeit ist etwas, das wir mit dem Bemühen um reibungslose und gute soziale Beziehungen in Verbindung bringen. Aber Höflichkeit hat ihre eigene Unterströmung der Ablehnung und ihre eigene Art, Menschen auszugrenzen. Sie grenzt Menschen zunächst dadurch aus, dass sie zwischen denjenigen unterscheidet, die höflich sind und denen, die es nicht sind. Aber daneben gibt es auch subtilere Formen der Ausgrenzung durch Höflichkeit, indem sie nämlich auch diejenigen ausgrenzt, auf die sie angewandt wird, diejenigen, deren „schlechtes Benehmen“ man vorgibt, nicht zu sehen.

Auch wenn wir vielleicht bisweilen meinen, im historischen Verlauf eine Zunahme von Höflichkeit oder Toleranz zu sehen: Als Historikerin tendiere ich dazu, zurückhaltend gegenüber Erzählungen zu sein, die den Fortschritt hin zu einer modernen, fast liberalen Gesellschaft feiern. Ich wollte immer die Komplexitäten, die Ironien und die Spannungen, erkennen, die weiterhin bestehen bleiben, denn vieles, was in der modernen Politik des 21 Jahrhunderts und in den Medien passiert, illustriert, wie zirkulär diese Prozesse in allen Gesellschaften sind.

A.B.: Ich denke, dieser letzte Punkt ist sehr wichtig. Auch in Deutschland gibt es eine Art „Whig-History“, die die Vorstellung aufbrachte, dass die Frühe Neuzeit das Laboratorium der Moderne sei, dass alles, was, in diesen 300 Jahren passiert ist, eigentlich nur ein Experiment für eine bessere Gesellschaft sei. Aber diese Erzählung geht nicht auf.

L.Z.: Wobei ich schon finde, dass paradoxerweise genau diese Zirkularität, das Wiederauftauchen von Problemen durchaus ein Argument dafür sein kann, auf die Frühe Neuzeit als ein Laboratorium zu blicken und sich die Frage zu stellen, wie diese Probleme damals behandelt wurden und was die Situationen gemein haben, dass die Themen jetzt wieder auftauchen – was auch zu der letzten größeren Frage führt: Oft gibt es Phasen, in denen eine bestimmte Form des religiös devianten Verhaltens, das erstmal kaum eine Rolle spielt, quasi „übersehen wurde“, plötzlich zum Problem wird. Was steht denn bei diesen Dynamisierungen im Hintergrund? Insbesondere: Inwiefern stehen sie damit im Zusammenhang, dass diese Handlungen nicht einfach nur stattfinden, sondern auch benannt und zugeordnet werden und damit auf einmal auch für bestimmte, öffentlich identifizierbare Gruppen stehen?

A.W:. In der Frage stecken wichtige Elemente. Zum einen ist es so, dass die „Rechtgläubigen“ sich selbst als solche identifizieren und ihre Aufgabe darin sehen, Irrtümer zu benennen und sichtbar zu machen. Es gibt eine riesige, enorm reiche Geschichtsschreibung zur Zeit ab dem Mittelalter darüber, wie Minderheitengruppen und allgemein Gruppen, die von den Orthodoxen als abweichend identifiziert werden, zum Teil durch den Prozess der Identifizierung und Benennung ins Leben gerufen werden. Es gibt einen dialektischen Prozess, bei dem die Dinge nicht existieren, bis sie benannt werden. Aber dieser Prozess der Benennung katalysiert ein Gefühl der Identität innerhalb der so benannten Gruppe. Die geschriebene und gesprochene Sprache ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, diesen Pluralismus zu festigen und in der Gesellschaft eine Taxonomie zu schaffen.

Was enorm wichtig ist, ist auf der anderen Seite die Bereitschaft, auf Beschimpfungen, auf bösartige Worte gegen die Nachbarn zu verzichten. Das schafft die Bedingungen, unter denen Koexistenz keimen und wachsen kann. Das ist das Thema, das ich zu erforschen versuche, wenn ich auf die Dynamik des Sprechens und Schweigens blicke. Es ist wichtig verstehen, was die Menschen nicht sagen, und was sie sagen, denn beides hat die Fähigkeit, Toleranz zu fördern, und gleichzeitig die Bedingungen zu schaffen, unter denen diese Ausbrüche von Intoleranz und Gewalt in jeder Gesellschaft wieder aufkeimen können.

Das sind Fragen, die wir uns auch heute wieder stellen, wenn es um Meinungsfreiheit geht. Das ist natürlich ein schwieriges Gebiet, aber man könnte sagen, dass das aktuelle Klima eines ist, in dem es für die Menschen schwierig geworden ist, zu akzeptieren, dass Meinungen, die sie nicht teilen, Meinung sind, die es anderen dennoch erlaubt sein sollte, zu äußern und zum Ausdruck zu bringen. Wo ist die Grenze zwischen Beleidigung und der Akzeptanz von Meinungsverschiedenheiten zu ziehen? Ich denke, wir befinden uns in einem dieser Momente, in dem wir diese Grenze regelmäßig neu kalibrieren. Diese Fragen, über die sich die Menschen im 16. und 17. Jahrhundert zerrissen haben, sind nach wie vor von grundlegender Bedeutung für soziale Innovationen und für die Diskussion heute, genauso wie damals.

Die Toleranz als Ideal stößt eben manchmal auf die Tatsache, dass diese Toleranz verletzend sein und selbst die sozialen Beziehungen zersetzen könnte. Und wenn man heute bisweilen den Eindruck haben kann, dass sich gerade ein Art Intoleranz gegenüber der Toleranz entwickelt: Dann werden Historiker*innen uns daran erinnern, dass dies nicht neu ist, sondern Teil einer ganzen Reihe von zyklischen Phasen ist, in denen diese Dinge an verschiedenen Punkten in der Geschichte zu verschiedenen Zeitpunkten und in verschiedenen Räumen neu verhandelt werden.


Als Historikerin tendiere ich dazu, zurückhaltend gegenüber Erzählungen zu sein, die den Fortschritt hin zu einer modernen, fast liberalen Gesellschaft feiern. Ich wollte immer die Komplexitäten, die Ironien und die Spannungen, erkennen, die weiterhin bestehen bleiben.“

Alexandra Walsham

A. B.: Mir scheint aber doch ein spannender Punkt zu sein, dass wir heute so viel über den Unterschied zwischen Hate Speech und freier Rede diskutieren. Diese Unterscheidung war in der Frühen Neuzeit nicht so wichtig. Denn was wir heute als freie Rede verstehen, wäre an sich schon ein Angriff gegen die soziale Ordnung gewesen und damit durch den Souverän unterbunden worden.

A.W.: Ein weiterer Punkt der Unterscheidung ist auch der, dass es in der Vormoderne Situationen gab, in denen Personen es als ihre moralische Verpflichtung betrachteten, das Wort gegen das Gegenüber zu erheben und ihn oder sie in einer Form der Rede zu tadeln, die wir heute als Hate Speech betrachten könnten. Hier taucht wieder diese Vorstellung auf, auf die ich so oft verweise, die des charitable hatred, die Vorstellung, dass der Hass, den du fühlst ein wohltätiger Hass ist: Er wird getrieben von Vorstellungen, dass es deine moralische und spirituelle Pflicht ist, den anderen vor der Hölle oder dem göttlichen Urteil zu bewahren.  

L.Z: Eine Frage, die in der Vormoderne eine viele größere Rolle spielt als heute, ist nicht nur diejenige danach, was man sagen oder schreiben darf, sondern auch die, wer es hören oder lesen darf. Das kann man meines Erachtens gut an Deiner Arbeit zur katholischen Zensur sehen, Andreea.

A.B.: Wenn wir auf die Indizierungspraxis der römischen Kurie blicken, ist natürlich auffällig, dass, was indiziert ist, nicht für alle gesperrt war. Juristen, Theologen, Ärzte oder Adlige erhielten grundsätzlich Zugang zu verbotenen Büchern. Es gab diese Vorstellung, dass Bildung und Wissen moralische Stärke verleihen. Dem zugrunde liegt die sehr katholische Unterscheidung zwischen einer Öffentlichkeit, die nicht an bestimmten Wissenskontexten teilhaben durfte, weil sie nicht die passende Bildung hatte, und den Gelehrten, die das durchaus durften. Das klassische Beispiel ist Galileo. Hier ging es nicht um richtig und falsch, die Inhalte seiner Überlegungen wurden nicht per se verboten, sie sollten nur nicht allen zur Verfügung stehen. Dahinter stand die Annahme, dass weite Teile der Öffentlichkeit einfach nicht in der Lage waren, zu verstehen, dass Teile der Bibel metaphorisch und nicht wörtlich zu verstehen sind. Es ging darum die „einfachen Leute zu schützen“ – eine Vorstellung, die uns heute zurecht sehr fremd geworden ist. Allerdings ist die Frage, was passiert, wenn wissenschaftliche Einsichten ohne hinreichende Einordnung in die öffentliche Debatte vordringen, ja durchaus eine, die sich auch in der Gegenwart stellt.