Zentral, plural und vernetzt:
Kiews Platz im vormodernen Christentum





Rückblick auf eine Konferenz an der Goethe-Universtiät.



Dass Kiew ein wichtiger und vielschichtiger Ort für die christliche Vormoderne war, ist unbestritten. Aber macht es deswegen Sinn, von „Kiewer Christentümern“ zu sprechen? Zum Abschluss des Sommersemesters 2023 nahm sich eine durch ukrainische Gastwissenschaflter*innen organisierte Konferenz der Thematik an. Anknüpfend an Leitthemen der Frankfurter Forschungsgruppe POLY fragte das Symposion zugleich, ob der Begriff des „religiösen Zentrums“ nicht insgesamt stärker als situativ bedingt gedacht werden müsse.


Welche Rolle spielt Kiew als christliches Zentrum in der Vormoderne? War seine Bedeutung vielleicht größer als lange vermutet? Wie entstanden religiöse Zentren? Und kann angesichts der internen Vielfalt überhaupt von einem Kiewer Christentum gesprochen werden, also von einer christlichen Spielart, die das gesamte mittelalterliche Fürstentum der Kiewer Rus prägte und auch nachfolgend die Region beeinflusste? Müsste man das nicht schon deshalb hinterfragen, weil es in Kiew selbst unterschiedliche christliche Gruppierungen gab – zum Beispiel Orthodoxe, Katholiken oder Unierte – die wiederum über eine Vielzahl an intellektuellen und künstlerischen Zentren wie Klöster und Akademien verfügten?

Die Konferenz In Search of Centres: Early Modern Kyivan Christianities, die vom 26. bis zum 29. Juni 2023 an der Goethe-Universität stattfand, ging diesen und verwandten Fragen nach. Organisiert wurde sie von den ukrainischen Gastwissenschaflter*innen Ivan Almes, Svitlana Potapenko, Oksana Prokopyuk, Vitalii Tkachuk und Valerii Zema. 


Für den ukrainischen Historiker Ivan Almes bietet das Konzept der „Kiewer Christentümer“ sogar die Möglichkeit einer „grundlegenden Revision der vormodernen Religionsgeschichte Mittel- und Osteuropas“.


Die fünf Historiker*innen forschen zum Teil bereits seit März 2022 als assoziierte Wissenschaftler*innen in der durch die Deutsche Forschungsgesellschaft (DFG) geförderten und an der Goethe-Universität beheimateten Kollegforschungsgruppe Polycentricity and Plurality of Premodern Christianities (POLY). Finanziert wurde die Arbeit der ukrainischen Wissenschaftler*innen zunächst durch Stipendien der Kollegforschungsgruppe selbst und durch das Ukraine-Nothilfe-Programm der  Gerda Henkel Stiftung. Mittlerweile wird ein ukrainischer Forscher durch die Gerda Henkel Stiftung unterstützt, während die anderen im Rahmen eines Unterprojekts von POLY weiter durch die DFG gefördert werden. Die ukrainische Wissenschaftler*innen eint ihr Interesse an inner-christlicher Pluralität und deren komplexen Wechselbeziehung mit Politik, Gesellschaft und anderen Religionsgemeinschaften. Im Fokus steht dabei die Zeit zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. 

Dieser Zeitraum bildete auch den Schwerpunkt der aktuellen Konferenz, an der 15 ukrainische und internationale Redner*innen und Moderator*innen teilnahmen und die unter anderem aus Polen, Litauen, Finnland, Griechenland und den USA anreisten.

Einige der Konferenzteilnehmer*innen auf dem Frankfurter Römer, hinten links: Svitlana Potapenko, Oksana Prokopyuk und Andreea Badea, hinten rechts: Ivan Almes.

Für die Frankfurter Gastwissenschaftler*innen war die Konferenz ein wichtiges Zeichen dafür, dass das Interesse an ihrem Heimatland auch jenseits der plötzlichen Neugier von 2022 bestehen bleibt. So sehen insbesondere Ivan Almes und Svitlana Potapenko den Workshop als einen Baustein, um die Ukraine fest in der europäischen Geschichte zu verankern. Sie hoffen, so einer aus ihrer Sicht nach wie vor von russischen Narrativen dominierten Leseart der mittel- und osteuropäischen Geschichte einen anderen Blickwinkel entgegenzustellen. 

Als einen möglichen Zugang zu neuen Perspektiven auf die osteuropäische Religionsgeschichte stellt Ivan Almes den bei der Konferenz im Fokus stehenden Begriff der Kiewer Christentümer heraus: Zwar besteche die jüngere Forschung zur Vormoderne bereits durch ihren Blick auf unterschiedliche Varianten des Christentums. Dennoch erfahre sie eine grundlegende Neuordnung, wenn Kiew als eines der Zentren der Herausbildung des Christentums in den Blick gerät. Für Almes bietet ein solcher Ansatz sogar die Möglichkeit einer „grundlegenden Revision der vormodernen Religionsgeschichte Mittel- und Osteuropas“. Svitlana Potapenko wiederum betont, dass die Konferenz den innovativen Wert dieses Vorgehens unter Beweis gestellt habe, insofern die Frage nach der zentralen Rolle Kiews für das Christentum Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Ländern spannende Diskussionen ermöglicht habe. Ein auf den Konferenzbeiträgen basierender Sammelband soll diese Einsichten zukünftig vertiefen. 


„Wir bei POLY sind überzeugt davon, dass religiöse Zentren nicht gesetzt sind. Deswegen untersuchen wir ihre Etablierung, indem wir auf Akteure und ihre Praktiken schauen.“

Andreea Badea, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei POLY


Mit Blick auf die bei der Konferenz untersuchten Sachverhalte sind für Andreea Badea, Wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Frankfurter POLY-Gruppe, insbesondere die dynamischen Aspekte wichtig: „Wir bei POLY sind überzeugt davon, dass religiöse Zentren nicht gesetzt sind und dass ihre Bedeutung je nach Situation und in Abhängigkeit von äußeren Faktoren zu- und abnimmt. Deswegen untersuchen wir ihre Etablierung, indem wir auf Akteure und ihre Praktiken schauen. Gerade diejenige Konferenzbeiträge, die auf eine Akteursperspektive scharfstellten, konnten daher exzellent an unsere Forschungskonzepte anknüpfen. Faszinierend ist es für mich daher auch, zu sehen, wie Kiew Teil eines eng verwobenen Netzwerkes von religiösen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Interaktionen war, das sich zwischen Griechenland, den rumänischen Voevodaten, Russland, Polen-Litauen, dem Alten Reich und sogar bis nach Italien erstreckte.“

Die Historikerin, die zwar nicht zu den offiziellen Organisator*innen der Tagung gehört, aber intensiv in deren Vorbereitung und Umsetzung involviert war, findet zudem, dass die aktuelle Konferenz die Bedeutung der Ukraine-Fellows für das POLY-Projekt insgesamt unterstrichen hat: „Vor der Zusammenarbeit mit den ukrainischen Wissenschaftler*innen haben wir uns vor allen Dingen mit nicht-orthodoxen Varianten des Christentums beschäftigt. Durch ihre Kenntnisse der diversen Ausprägungen frühneuzeitlicher Orthodoxie bringen die Fellows eine weitere Vergleichsgröße für unsere Forschung zu inner-konfessioneller Vielfalt ein, was auch auf der Tagung gut nachzuverfolgen war.“

Text: Louise Zbiranski